Verlieren kleine und mittlere Unternehmen
den Anschluss an die virtuelle Realität?

Technologien der virtuellen Realität findet man heute schon in vielen Großunternehmen. Sie vereinfachen dort die Kommunikation und spielen ihre Stärken in der Produktentwicklung und insbesondere im Anforderungsmanagement aus. Nicht so bei kleinen und mittelständischen Unternehmen, denn diese agieren noch vergleichsweise zurückhaltend, wenn es um den Einsatz entsprechender Technologien geht. Vermeintlich hohe Implementierungskosten und fehlende Mitarbeiterqualifikationen verbannen den Großteil der KMU auf die Wartebank. Doch das birgt Gefahren: Der deutsche Mittelstand droht bei dem Thema den Anschluss zu verlieren.

 (Bild: DGQ Deutsche Gesellschaft für Qualität e.V.)

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Sich verkürzende Produktzyklen, komplexer werdende Produkte und individuelle Kundenwünsche fordern Unternehmen und ihre Entwicklungsabteilungen heraus. Dabei identifizieren viele Unternehmen vor allem zwei Komponenten als besonders zeitintensiv: unklare Anforderungen zu Projektbeginn und Spezifikationen, die sich während des Entwicklungsprozesses ändern. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, die oft als Zulieferer agieren und Produkte kundenspezifisch fertigen, sind betroffen. Sie können ihre Wettbewerbsfähigkeit allerdings steigern, indem sie das Optimierungspotenzial der Virtuellen-Realität-Technologien nutzen. Zeittreiber im Entwicklungsprozess zu eliminieren und verlässliche Anforderungen zu sichern, sind dabei zentrale Aspekte.
 (Bild: DGQ Deutsche Gesellschaft für Qualität e.V.)

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Das ungenutzte Potenzial

Der Kunde spielt im Rahmen der Produktentwicklung insofern eine wichtige Rolle, als dass die Entwickler im Unternehmen abhängig sind von einem guten Briefing und klar formulierten Anforderungen an das Produkt. Anforderungen bleiben aber schon alleine deshalb oft unklar, weil an der Produktentwicklung beteiligte Parteien aneinander vorbeireden oder sie keine genaue Vorstellung von dem zu entwickelnden Endprodukt haben. Schwierig wird es auch, wenn Experten aus unterschiedlichen Bereichen zusammenkommen und gegebenenfalls verschiedene Fachtermini nutzen. In der Regel vereinfacht ein Anschauungsgegenstand die Kommunikation in solchen Fällen deutlich. Die virtuelle Realität macht genau das möglich. Sie visualisiert fertige Produkte zu einem Zeitpunkt, an dem noch keine Prototypen vorliegen. In der virtuellen Umgebung können Prozessbeteiligte dann am konkreten Objekt besprechen, was sie vom Endprodukt erwarten und wo gegebenenfalls Modifikationen vorzunehmen sind. Auch Spezifikationen, die sich im Laufe der Produktentwicklung ändern, können über die virtuelle Realität abgebildet werden. Dabei lässt sich auch aufzeigen, ob die Modifikationen Auswirkungen auf andere Teile des Systems oder des Produktes haben werden. Je früher die beteiligten Parteien dabei in den virtuell unterstützten Dialog treten, desto besser. Neben den vermeintlich hohen Implementierungskosten, scheuen kleine und mittelständische Unternehmen aber auch oft die Nutzung neuer Technologien, weil wirksame Prozesse und Methoden zu deren Einsatz unbekannt sind. Kommen VR-Technologien zum Einsatz, geschieht dies oft zu spät im Konstruktionsprozess. Das Potenzial der frühzeitigen Anforderungskonkretisierung im Innovations- beziehungsweise Entwicklungsprozess bleibt ungenutzt. An diesem Punkt setzt ein Projekt der Forschungsgemeinschaft Qualität e.V. – einer Tochter der Deutschen Gesellschaft für Qualität – in Kooperation mit der Bergischen Universität Wuppertal und der Universität Stuttgart an. Im Rahmen des sogenannten ‘Vitamin’-Projektes (Virtuelles Anforderungsmanagement im kundenintegrierten Innovationsprozess) arbeiteten die Wissenschaftler eng mit Partnerunternehmen zusammen, um die Einsatzmöglichkeiten von VR-Technologien in KMU zu eruieren und eine systematische Vorgehensweise zur Anforderungsgewinnung zu entwickeln. Diese sollte auf neuen Methoden und kostengünstigen Systemen basieren. Im Vordergrund stand dabei, Produktkonzepte schon vor der CAD-Phase für den Kunden erlebbar zu machen und den Kunden konsequent und durchgehend in die Anforderungsdefinition einzubinden. Konkret begleiteten die ‘Vitamin’-Wissenschaftler unter anderem ein Maschinenbauunternehmen bei der VR-unterstützten Neukonzeption einer Heizungsanlage. Noch vor der Erstellung des ersten Prototyps, wurde der Konzeptentwurf gemeinsam mit dem Kunden einer Prüfung unterzogen. Im Fokus standen die Montage- und Instandhaltungsfähigkeiten der Anlage. Dabei ergab die VR-basierte Analyse, dass die Ausmaße der Anlage zu Problemen bei der Anlieferung führen würde, da die Türöffnungen im Keller nicht groß genug waren, um eine Anlieferung in einem Stück zu ermöglichen. Die Heizungsanlage konnte daraufhin so konzipiert werden, dass die einzelnen, modularen Bauteile eine reibungslose Anlieferung ermöglichten. Auch im Bereich Montage und Instandhaltung wurden im Vorfeld problematische Konstruktionen verhindert. Die Schnittstellen einzelner Schläuche und Kabel zwischen den Modulen wurden so verbaut, dass sie von vorne zugänglich sind, da die Heizungsanlage nach deren Aufbau nur diesen einseitigen Zugriff ermöglichen würde. Die im Rahmen der Simulation erkannten Probleme ersparten dem Unternehmen erwartungsgemäß Zeit und Kosten im späteren Entwicklungsprozess, aber auch während der Nutzungsphase der Anlage. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war die Begeisterung des Kunden über die VR-Sitzung und die individuelle Betreuung.

 (Bild: DGQ Deutsche Gesellschaft für Qualität e.V.)

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Prozessorientiert einsetzen

Für Unternehmen, die sich für den Einsatz von VR-Technologien im Anforderungsmanagement entscheiden, sind aus Sicht der ‘Vitamin’-Beteiligten die folgenden Aspekte in der Umsetzung wichtig. Generell sollte der Einsatz prozessorientiert erfolgen. VR-Elemente sollten nicht nur punktuell, sondern entlang des gesamten Produktentwicklungsprozesses eng mit dem Anforderungsmanagement verzahnt werden. Nicht zu vernachlässigen ist zudem eine gute Vorbereitung. So sollte die Zielsetzung einer jeden VR-Sitzung vorab klar definiert und im Meeting eingelöst werden. Auch bei der Auswahl der Kunden und Mitarbeiter, die an einer VR-Sitzung teilnehmen, sollte darauf geachtet werden, dass ausreichendes Fachwissen und Kompetenzen vorhanden sind. Zudem empfiehlt es sich dringend, die VR-Sitzungen und die darin erarbeiteten Anforderungen noch während des laufenden Meetings zu dokumentieren. Schließlich muss das zum Einsatz kommende VR-System natürlich auch zum Unternehmen und den Einsatzszenarien passen. Dabei sollte die Frage, wozu die VR genutzt werden sollte, bereits vor der Anschaffung der entsprechenden Technologie beantwortet werden. Für reine Präsentationszwecke reicht aus technischer Sicht eine Datenbrille oder eine Powerwall völlig aus. Zu Bedenken ist allerdings, dass beim Tragen der recht großen Brillen, mimische Informationen des Gegenübers verloren gehen, was die Kommunikation unter Umständen erschweren kann. Die Anschaffung größerer VR-Systeme ist dann ratsam, wenn Teams komplexe Sachverhalte analysieren und weiterentwickeln sollen. Die Ergebnisse des ‘Vitamin’-Projektes flossen in den ‘Leitfaden zur Nutzung virtueller Realität in der Produktentwicklung’ der FQS ein. Er soll Unternehmen dabei unterstützen, ein gezieltes Forschungs- und Entwicklungsmanagement, ein konsequentes Datenmanagement sowie integriertes Kundenwissen umzusetzen.

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